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13. August 2012 / Inland / Seite 14

Kurven eckiger fahren

Eine Reise mit einem Gelenkbus durch die Straßen von Göttingen

Von Kai Böhne, Göttingen
Seit 14 Jahren ist Michael Guder Busfahrer in Göttingen. Auf einer Fahrt durch die niedersächsische Stadt erzählt er, worauf man als Busfahrer achten muss.
 
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Es ist nicht leicht, einen Zwirnsfaden durch ein Nadelöhr zu fädeln. Mit geschlossenen Augen wäre es unmöglich. Ein verkehrstechnisches Nadelöhr, zudem ein schlecht einsehbares, ist die Verbindung von der Groner Tor Straße in die Groner Straße. An diesem schmalen Zugang zur Innenstadt begegnen sich täglich viele Stadtbusse. Nur einer kann jeweils passieren. »Als Fahrer der Linie 3 oder 5 nutze ich die Schaufenster der angrenzenden Geschäfte. In ihnen kann ich die entgegenkommenden Busse frühzeitig erkennen«, erklärt Michael Guder. Er sitzt seit 14 Jahren hinter dem Steuer von Stadtbussen. Als Gelenkbusfahrer muss er besonders umsichtig durch die Straßen Göttingens fahren.

Bis zu 170 Plätze

Die Leitstelle setzt alle Fahrer auf verschiedenen Linien ein. Guder ist heute zum Frühdienst eingeteilt, er soll die Linie 14 zwischen Rosdorf und Bovenden steuern. Die Strecke ist stark frequentiert. Ein Gelenkbus, ein Citaro von Daimler-Benz, Baujahr 2011, sechs Zylinder, mit 11 967 Kubikzentimeter Hubraum wird eingesetzt.

Tag für Tag nutzen 52 000 Göttinger Fahrgäste den öffentlichen Nahverkehr. Um alle an ihr Ziel zu bringen, verlassen täglich 80 Stadtbusse den Betriebshof der Göttinger Verkehrsbetriebe (GöVB) in der Gustav-Bielefeld-Straße. Normalbusse, auch Solobusse genannt, haben eine Länge von 12 Metern und verfügen über gut 90 Sitz- und Stehplätze. Die in Göttingen eingesetzten Gelenkbusse sind 18 Meter lang, haben drei Achsen und stammen von Daimler-Benz und MAN. Je nach Bestuhlung finden in ihnen 150 bis 170 Fahrgäste Platz. Der Stehbereich wird für Rollatoren, Rollstühle, Kinderwagen und Fahrräder benötigt.

»Wir führen regelmäßig Fahrgastzählungen durch«, erläutert der Pressesprecher der Göttinger Verkehrsbetriebe, Manfred Mölder. »So können wir in Stoßzeiten zielgerichtet Gelenkbusse bereitstellen.« Zu Spitzenzeiten sind laut Mölder sämtliche 33 Gelenkbusse im Einsatz. Sie werden in den Abendstunden, wenn das Fahrgastaufkommen nachlässt, wieder abgezogen. Gelenkbuskilometer sind teurer. Normalbusse verbrauchen zwischen 39 und 46 Liter Diesel auf 100 Kilometern. Gelenkbusse schlucken 54 bis 58 Liter.

Der Dienst von Stadtbusfahrer Michael Guder beginnt um 5.20 Uhr im Depot. Sein heutiger Citaro-Bus verfügt über knapp 300 PS und hat 39 Sitz-, 110 Stehplätze und - wie jeder Bus - einen Rollstuhlfahrerplatz. Ab Depot fährt Guder allein als Betriebsfahrt zum Spickenweg in Rosdorf. Hier beginnt um 5.46 Uhr die öffentliche Fahrt. Guder bringt Berufstätige zu ihren Arbeitsplätzen und fährt Schüler zu ihren Schulen. Zwei Gebäude des Felix-Klein-Gymnasiums und die Bonifatiusschule liegen an seiner Strecke. Zwei Stunden später ist Guder wieder an seinem Ausgangspunkt. Auch auf anderen stark nachgefragten Strecken setzt die GöVB Gelenkbusse ein: Zwischen Nikolausberg und Hetjershausen auf der Linie 5, zwischen Grone-Süd und Weende-Nord auf der Linie 3, zwischen Holtenser Berg und den Zietenterrassen auf der Linie 1 und zwischen Weende Nord und Geismar auf der Linie 2.

Wie eine Schlange

»Früher wurden Gelenkbusse durch die zweite Achse im Vorderwagen angetrieben«, schildert Guder, der seinen Lkw- und Busführerschein bereits mit 21 Jahren bei der Bundeswehr machte. Zivil war das bis 1983 erst mit 23 Jahren möglich. Der Motor saß unter dem Bus, in der Mitte des Vorderwagens. Dies hatte zwei wesentliche Nachteile: Der Motor war für Wartungsarbeiten schlecht zugänglich. Außerdem lag der Fahrzeugboden so hoch, dass Trittstufen zum Einstieg nötig waren. »Daher werden seit über dreißig Jahren vorrangig Schubgelenkbusse, sogenannte Pusher, eingesetzt«, erläutert Guder. Sie haben einen Heckmotor, der die dritte Achse, die Achse des Nachläufers antreibt. Die GöVB hat nur Schubgelenkbusse eingesetzt.

Um 8.50 Uhr verlässt Guders Gelenkbus seinen nördlichsten Punkt in der Liegnitzer Straße in Bovenden. An der Haltestelle Greifswalder Straße wartet eine ältere Dame im Elektrorollstuhl. Michael Guder räumt seinen Fahrersitz. Er legt eine Klappe vom Einstieg auf den Gehweg. So kann die Dame in den Bus fahren.

Geschmeidig wie eine Schlange windet sich der Bus mit seinem Ziehharmonikabauch vom Plesseweg in den Steinweg und später in den Südring und Sonnenberg. »Man darf Gelenkbusse nicht wie einen Pkw fahren. Ich sitze vor der ersten Achse. Da muss man weiter ausholen und Kurven eckiger fahren«, erläutert Michael Guder, als er eine Schleife durch den Wurzelbruchweg zieht und am Ende einen flachen kopfsteingepflasterten Kreisel umrundet. »Per Rückspiegel behalte ich immer das Hinterrad im Auge. Wenn das rumkommt, kommt auch der Nachläufer mit.«

Rückwärtsfahren verboten

Nachdem der Bus den Kreisel am Ortsausgang von Bovenden passiert hat, folgt eine lange schnurgerade Strecke. Die folgenden Haltestellen reihen sich aneinander wie Perlen einer Schnur. Keine Herausforderung für den Gelenkbus. Doch die grüne Welle wird zur Tücke. »Durch Haltestellen zwischen den Ampeln wird aus der grünen leicht eine rote Welle«, sagt Guder. Am Lutteranger steigen drei Erzieherinnen mit 12 Kindergarten-Kindern zu. Sie wollen zum Badeparadies Eiswiese. Und am Kreuzbergring steigt eine Schülergruppe ein, die am Kiessee paddeln will. Die Fahrkartenkäufe der Gruppen bewirken eine Verzögerung.

»Mit Gelenkbussen muss man vorausschauend fahren«, erklärt Guder. »Es ist verboten rückwärts zu fahren. Zurücksetzen ist nur mit einem Einweiser erlaubt, der in Besitz eines Busführerscheines ist.« Auch starke Bremsmanöver sollten vermieden werden. »Bei einer Vollbremsung blockiert der Bus sofort. Da kann sich kein Fahrgast halten.« Vollbremsungen führen zu Verletzungen bei den Insassen. Leider kommt es häufig durch Unachtsamkeit anderer Verkehrsteilnehmer, vor allem Radfahrer, zu Vollbremsungen und damit zu Verletzungen von Fahrgästen.

Als Michael Guder von der Weender Straße in den Stumpfebiel, einbiegen will, muss er kurbeln. Mehrmals umfasst er mit dem Arm das Lenkrad. Durch Straßenbauarbeiten ist der Stumpfebiel auf die Hälfte verengt. Ähnliche Klippen gibt es später auf dem Rückweg, beim baustellenbedingten Wechsel von der Kurzen Geismar Straße zur Ersatzhaltestelle in der Roten Straße. Michael Guder bleibt gelassen. Er hat Routine. Gegen 13.30 Uhr endet sein Dienst. Nach anstrengenden Busfahrten findet er einen Ausgleich als Imker und Bienenzüchter.